Die Welt verändert sich jeden Tag. Jede Stunde. Jede Sekunde. Das heißt: Auch unsere Arbeitswelt und die Lebenswelt ändern sich zusehends. Für die Versicherungsbranche birgt das zahlreiche Herausforderungen. Etwa im Bereich der Berufsunfähigkeitsversicherung. Über diese Veränderungen sowie die daraus resultierenden Anforderungen und Chancen haben wir mit Torsten Breitag gesprochen. Er ist Versicherungsmakler und gehört zu den deutschlandweit anerkanntesten Experten im Bereich BU.
Redaktion: Alexa Skill Builder, VR-App-Entwickler, TikTok-Marketer – all das sind Berufe, die es vor 10 Jahren noch nicht gab. Genügt die klassische Berufsunfähigkeitsversicherung den modernen und flexiblen Ansprüchen solcher Tätigkeiten überhaupt noch?
Torsten Breitag: Die Berufsunfähigkeitsversicherung ist verdammt alt, aber kein bisschen eingestaubt. Ein Beruf im Sinne einer Berufsunfähigkeitsversicherung liegt immer dann vor, wenn es sich um eine dauerhafte Tätigkeit handelt, die dazu dient, den Lebensunterhalt zu verdienen.
Insofern spielt es für die Absicherung nicht wirklich eine Rolle, welche Berufsbezeichnung im Arbeitsvertrag steht oder welche Bezeichnung sich ein Selbstständiger selbst gibt.
Ein Beispiel: Jüngst kam in einer Diskussionsgruppe für Makler das Thema „Influencer“ auf den Tisch. Unter den Kommentaren fand sich unter anderem die scherzhafte Bemerkung, „kein Beruf, nicht versicherbar“. Das ist so pauschal schlicht falsch. Hinter der Bezeichnung kann sich sehr wohl ein strukturiertes Geschäftsmodell und eine dauerhafte Tätigkeit verbunden mit hervorragendem Einkommen verbergen. Kurzum: Ein Beruf im Sinne der Berufsunfähigkeitsversicherung.
Im Sinne eines Leistungsantrags und in Bezug auf die Nachhaltigkeit eines Leistungsanspruchs zählen Ausbildung, Einkommen und tatsächliche Ausgestaltung des üblichen Arbeitsalltags.
Redaktion: Was bedeutet das für Vermittler?
Torsten Breitag: Vermittler sind hier stark gefordert. Ein einfaches Beispiel sind die Berufsgruppensystematiken der Versicherer. Hier gibt es durchaus offene Erst- und Rückversicherer, die mit unterschiedlichen Ansätzen versuchen, unserer modernen Berufswelt gerecht zu werden. Hier ist der Vermittler gefordert, kommunikativ die Brücke zwischen Versicherer und Kunden zu bauen.
Dafür ist es von Vorteil, wenn der Vermittler Kenntnisse über die Gegebenheiten in seiner Zielgruppe besitzt. Das ist natürlich eine systemische Herausforderung, wenn eine alternde Vermittlerschaft auf Generationen mit Baujahr nach 2000 trifft. „Das mach ich schon seit 20 Jahren so“ wird hier nicht reichen.
Wenn sich meine Kunden weiterentwickeln, muss ich das als Vermittler gemeinsam mit meinen Kunden auch. Diesbezüglich bin ich positiv gestimmt. Einige meiner geschätzten 50+ Kollegen bemühen sich aus Überzeugung auch weiterhin noch jeden Tag dazu zu lernen.
Redaktion: Das heißt unter dem Strich?
Torsten Breitag: Natürlich hat die Berufsunfähigkeitsversicherung auch ihre Grenzen. Bill Gates, Steve Jobs oder Mark Zuckerberg wären als Studienabbrecher zum Zeitpunkt ihrer Unternehmensgründungen Kandidaten für die denkbar teuersten Berufsgruppen gewesen. Und hätten ob mangelnder wirtschaftlicher Angemessenheit am Anfang wahrscheinlich nur 1.500 Euro BU Rente abschließen können.
Darüber kann man schmunzeln, sollte es gedanklich aber rasch abhaken. Für die Mehrheit junger und gut qualifizierter Erwerbstätiger ist und bleibt die Berufsunfähigkeitsversicherung eine konkurrenzlos gute Wahl. Wenn dann doch mal ein zukünftiger Bill Gates dabei ist: Eine Berufsunfähigkeitsversicherung kann man jederzeit kündigen, wenn man sie in Folge spontanen Reichtums nicht mehr braucht.
Redaktion: Die Innovationsgeschwindigkeit nimmt eher zu denn ab. Neue Tätigkeiten und Jobs werden häufiger. Was bedeutet das für das Produkt BU-Versicherung und die Gesellschaften?
Torsten Breitag: Natürlich ist vor allem die Produktentwicklung gefragt, um die Anforderungen und Wünsche der heute jungen Kunden erfüllen zu können. Das ist in vielerlei Hinsicht eine nicht zu unterschätzende Herausforderung.
Wenn ich als Vermittler heute einen zehnjährigen Schüler in der Berufsunfähigkeitsversicherung versichere, muss ich mir klar sein, dass allein in den nächsten zwei Jahrzehnten unzählige Variablen schlummern. Ausbildungsverlauf und Abschluss? Berufseinstieg und Gehaltsentwicklung? Familiengründung und vielleicht ein Haus im Grünen?
Redaktion: Und wie klappt das in der Praxis?
Torsten Breitag: Mit diesen Herausforderungen kommen die Versicherer unterschiedlich gut zurecht. Der Druck, Produktentwicklung nach Vorgaben von Ratingagenturen und Wettbewerb laufen zu lassen, ist leider durchaus spürbar. Das führt auch dazu, dass die Bedürfnisse und Anforderungen der Kunden zuweilen hinter kurzfristig pragmatischeren Überlegungen zurückstehen müssen.
Hier ist vor allem der Vermittler gefordert, Lösungen zu finden, die hinsichtlich Flexibilität und Anpassbarkeit auch mit zukünftigen Lebensentwicklungen der Kunden Schritt halten können. Denn Kunden und ihre Anforderungen an ein Produkt werden immer individueller. Das Produkt Berufsunfähigkeitsversicherung am Markt gibt das her. Einfach beispielhaft genannt: Optionen zur Überprüfung der Berufsgruppe, Stundungsoptionen, modifizierte Nachversicherungsmöglichkeiten in Folge schrittweiser Abschlüsse beziehungsweise Ausbildung.
Redaktion: Inwieweit können Vermittler auf die modernen und zukünftigen Herausforderungen der dynamischen und sich stetig verändernden Berufswelt eingehen und sich positionieren?
Torsten Breitag: Offenheit ist die meiner persönlichen Meinung nach wichtigste Voraussetzung. Gefolgt von der Bereitschaft, sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Kunden zu orientieren und sich gemeinsam mit den Kunden weiter zu entwickeln. Das ist vielmehr eine Anforderung an die Softskills und fachliche Qualifikation der Vermittlerschaft als eine wirklich strukturelle Herausforderung.
Gerade bei den jungen Kollegen sind die am erfolgreichsten, die sich mehr oder weniger stark auf bestimmte Zielgruppen spezialisiert haben. Meine Zielgruppe zu verstehen ist wiederum Voraussetzung, um meiner Zielgruppe Mehrwerte liefern zu können. Wenn ich meiner Zielgruppe Mehrwerte liefern kann, habe ich zwangsläufig mit der Zeit viele zufriedene Kunden – und in der Regel mehr davon als ich am Tag beraten kann.
Kurzum, Vermittler sollten sich eine einfache Frage stellen: „Welchen Mehrwert kann ich der Zielgruppe X bieten, den diese Zielgruppe zum Beispiel von Check24 nicht geboten bekommt?“ Die Antwort darauf sollte möglichst nichts mit Anzug, Auto, Schuhfarbe, Frisur oder Erreichbarkeit zu tun haben.
Redaktion: Die Technisierung schafft nicht nur neue Berufe, sie verändert auch Berufe, die es schon seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar Jahrhunderten gibt. Welche Chancen bieten sich Vermittlern dadurch?
Torsten Breitag: Technik soll unser Leben ja bereichern und vereinfachen, nicht bestimmen. Und das ist es, was allen Unkenrufen zum Trotz tatsächlich in der Berufswelt passiert. Ein Techniker, der hoch komplexe Geräte – oder selbst Betten – in einem Krankenhaus wartet, tut das heute eher nicht mehr mit ölbeschmutzten Fingern, sondern zum Teil in Hemd und Krawatte.
Höhere Anforderungen an Qualifikation und Ausbildung gehen natürlich auch mit höheren Einkommen einher. Auch ein Fachinformatiker mit ein paar Jahren Berufserfahrung geht heute eher selten mit weniger als 50.000 Jahresbrutto nach Hause. Technisierung schafft aus Vermittlersicht vor allem viele neue, sehr interessante Zielgruppen. Wenn ich deren Bedürfnisse, Anforderungen und Wünsche verstehe, kann ich Mehrwerte bieten.
Biometrie ist dabei dank der Komplexität des Themas das spannendste Betätigungsfeld. Hier braucht der Kunde den versierten Vermittler, um den Durchblick zu behalten und am Ende eine bedarfsgerechte Absicherung zu erhalten. Wenn meine Mehrwerte und Prozesse für meine Zielgruppe passen, bin ich Check24 bei meinen Kunden immer einen Schritt voraus.
Redaktion: In der BU gibt es eine zunehmende Verschiebung auf Seiten der Leistungsauslöser, von körperlichen hin zu psychischen Erkrankungen. Zumindest legt das die GDV-Statistik nahe. Sind Ihre Beobachtungen aus der Praxis ähnlich?
Torsten Breitag: Einer der großen Mehrwerte in der Berufsunfähigkeitsversicherung besteht darin, dass die Einschränkungen im Sinne eines Leistungsauslösers kumulativ wirken. Ein gerne bemühtes Beispiel: Vermutlich kennen die meisten Kollegen Sätze wie „ich kriege ja nicht einmal Geld, wenn ich im Rollstuhl sitze“ gehört.
Nun, das reine Sitzen im Rollstuhl mag bei klassischen Büro- und Kopfberufen nicht reichen, um eine Leistung in der Berufsunfähigkeitsversicherung auszulösen. Doch was ist hinsichtlich weiterer Einschränkungen? Bestehen beispielsweise weitere erhebliche Bewegungseinschränkungen, ein chronisches Schmerzleiden und Konzentrationsstörungen oder psychische Beschwerden in Folge der veränderten Lebenssituation? All das ist kumulativ im Sinne der 50 Prozent Leistungsgrenze zu betrachten.
Redaktion: Also das klassische „ein Unglück kommt selten allein“?
Torsten Breitag: Führt man sich das vor Augen, stößt man auf den größten Mythos rund um die Berufsunfähigkeitsversicherung. Die Menschen stehen eben nicht morgens auf und stellen fest, „so jetzt habe ich einen Burnout, ab heute bin ich berufsunfähig.“ Psyche ist sehr häufig nur der letzte Knall, der bei einer anderen Grunderkrankung am Ende den 50-Prozent-Leistungsnachweis im Sinne einer aufgerechneten Betrachtung ermöglicht. In die Statistik fließen solche Storys aber unter BU-Ursache Psyche ein. Etwa das chronische Schmerzleiden aus dem Beispiel, das zum vollständigen Verlust der Konzentrationsfähigkeit führen kann. Dieses würde als Nervenerkrankung in der Regel auch mit unter Psyche zusammengefasst werden. Ein passendes Beispiel aus der Unterhaltung wäre Dr. House.
Redaktion: Dr. House? Wieso das?
Torsten Breitag: Er löst mit chronischem Schmerzleiden und massivem Vicodinabusus hoch komplexe medizinische Fälle, ohne den Patienten gesehen zu haben. Funktioniert leider nur bei Netflix. Allein der Schmerzmittelmissbrauch in der Ausprägung würde recht schnell zu Folgen für Leber und Nieren führen. Auch stellen Schmerzmittel die Konzentrationsfähigkeit nicht wieder her, lindern nur die Schmerzsymptome. Dr. House wäre in der Realität sehr wahrscheinlich ein Leistungsfall in der Berufsunfähigkeitsversicherung, aber er würde wohl unter Psyche geschlüsselt werden.
Redaktion: Spielt die starke und weiter zunehmende Technisierung unseres Lebens hier dann gar keine Rolle?
Torsten Breitag: Doch, auch unsere moderne Berufswelt fordert sicherlich ihren Tribut. Ständige Erreichbarkeit über Telefon, WhatsApp, Social Media und Co. fördern nicht gerade einen gesunden Ausgleich zu beruflichen Belastungen. Ernährungskompetenz und Sport lassen sich im Zuge einer anspruchsvollen beruflichen Auslastung auch nur erschwert darstellen. Das und viele weitere Faktoren fördern natürlich die Risiken für eine Berufsunfähigkeit.
Redaktion: Wird Prävention in Zukunft an Bedeutung zunehmen?
Torsten Breitag: In diesem Kontext sehe ich vor allem für die Versicherer Chancen, zukünftig Mehrwerte anzubieten. Gerade die Krankenversicherer versuchen das auf unterschiedlichste Arten ja bereits seit Jahrzehnten. Im Bereich der Einkommens- und Arbeitskraftabsicherung findet bis dato kaum etwas in diese Richtung statt.
In diesem Punkt sind die Lebensversicherer noch ein wenig im Entwicklungsland. Gerade wenn man einem Kunden erklären muss, dass der Versicherer für seine harmlose neue Trendsportart verdachtsweise 50 Prozent Risikozuschlag haben will. Und das im Grunde nur, weil der Versicherer oder Rückversicherer noch keine brauchbaren Datenreihen angelegt hat. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir auch diesem Bereich in den kommenden Jahren spannende Entwicklungen sehen werden.
Redaktion: Herr Breitag, vielen Dank für diesen umfassenden Einblick.
Torsten Breitag: Sehr gerne, jederzeit wieder.
[…] Dem Versicherungsmakler und BU-Experten Torsten Breitag zufolge wirken psychische Erkrankungen oftmals kumulativ mit anderen Erkrankungen und stellen oft den „letzten Knall“ dar, der dann zur Berufsunfähigkeit führt. Als einen weiteren Risikofaktor sieht er die ständige Erreichbarkeit über Telefon, WhatsApp und Social Media. Die Zahlen sprechen hier eine deutliche Sprache: Dem Social Intelligence Unternehmen Brandwatch zufolge verbringen Internetnutzer täglich 142 Minuten in sozialen Netzwerken. Täglich gehen mehr als 60 Milliarden Nachrichten über Facebook Messenger und WhatsApp um die Welt. Versicherer müssten Breitags Meinung nach Mehrwerte anbieten, die präventiv wirken können. Weitere Einblicke von Torsten Breitag finden Interessierte im Interview. […]